Die Kunst des japanischen Heian- und Kamakura-Zeitalters (794 – 1336) fasziniert uns bis heute mit ihrer Eleganz, ihren subtilen Farbgebungen und den tiefgründigen Geschichten, die in den Bildrollen, den sogenannten “Emaki”, erzählt werden.
Eines der bekanntesten Beispiele dieser Emaki ist die “Chōjū-jinbutsu-giga” (Animal Scroll). Mit diesem Meisterwerk des frühen 13. Jahrhunderts wird eine humorvolle und zugleich philosophische Reise durch die Welt der Tiere unternommen, wobei Menschen und Tiere in einer ungewöhnlichen Symbiose miteinander agieren. Die Künstler, deren Namen uns leider nicht überliefert sind, scheinen den
Zuschauer mit einem Augenzwinkern auf die Absurditäten des menschlichen Daseins zu verweisen.
Die “Chōjū-jinbutsu-giga” besteht aus vier Bildrollen, die zusammen etwa 30 Meter lang sind. Die Szenen sind in einer lockeren und dynamischen Weise aneinandergereiht und zeigen eine Vielzahl von Tieren in anthropomorphen Situationen. Affen spielen Shogi (japanisches Schach), Katzen trinken Sake und Hasen lesen sutras. Diese
verspielten Darstellungen werden durch die virtuose Verwendung von Tuschemalerei auf Seide verstärkt. Die Künstler beherrschten die Technik des “sumi-e” meisterhaft, wodurch sie mit wenigen Strichen lebendige Figuren und atmosphärische Landschaften erschaffen konnten.
Die Interpretationen der “Chōjū-jinbutsu-giga”: Eine Reise in die Welt der japanischen Philosophie?
Was verbirgt sich hinter dieser einzigartigen Kombination von Mensch und Tier? Es gibt verschiedene Deutungsansätze, die den Kern dieser Bildrollen ergründen wollen:
- Satire auf die menschliche Gesellschaft:
Die anthropomorphen Tiere könnten als Spiegelbild der menschlichen Gesellschaft dienen. Ihre lustigen und oft übertriebenen Verhaltensweisen könnten Kritik an gesellschaftlichen Normen und Konventionen üben. So könnte beispielsweise die Darstellung von Affen, die Shogi spielen, eine Anspielung auf die arrogante Haltung mancher Intellektueller sein.
- Buddhistische Symbolik:
Auch buddhistische Einflüsse lassen sich in den Szenen erkennen. Tiere wurden im Buddhismus oft als Symbole für verschiedene Tugenden oder Laster verwendet. Die Hasen, die sutras lesen, könnten beispielsweise für Weisheit und Erlösung stehen.
- Zen-Philosophie und Naturverbundenheit:
Die “Chōjū-jinbutsu-giga” spiegeln auch die tiefe Verbundenheit der Japaner zur Natur wider. Die Tiere werden nicht als reine Objekte der
Beobachtung dargestellt, sondern als gleichwertige Wesen, die in Harmonie mit ihrer Umwelt leben.
Detaillierte Analyse ausgewählter Szenen:
- Szenen 1-5:
Die erste Bildrolle zeigt eine Vielzahl von Tieren in alltäglichen Situationen. Affen spielen Musik auf Bambusflöten, Katzen putzen sich sorgfältig und Hunde rennen durch den Wald.
Diese Szenen dienen als Einleitung und stellen die Vielfalt der Tierwelt dar.
- Szenen 6-10:
In der zweiten Bildrolle beginnen
die Tiere, menschliches Verhalten anzunehmen. Affen spielen Shogi, Katzen trinken Sake und Hasen lesen sutras.
Diese Szenen spiegeln die Satire auf die menschliche Gesellschaft wider.
- Szenen 11-15:
Die dritte Bildrolle zeigt Tiere in
komischen Situationen. Ein Hund trägt einen Hut und liest eine Zeitung, während ein Fuchs Sake trinkt und mit einem Revolver spielt.
Dies unterstreicht den spielerischen Charakter der “Chōjū-jinbutsu-giga”.
- Szenen 16-20:
Die letzte Bildrolle zeigt Tiere in einer ruhigen und
harmonischen Umgebung. Ein Hirsch meditiert unter einem Baum, während ein Vogel auf
einer Blume sitzt und singt. Diese Szenen spiegeln die Zen-Philosophie und die
Naturverbundenheit der Japaner wider.
Das Vermächtnis der “Chōjū-jinbutsu-giga”:
Die Bildrollen haben bis heute ihren Reiz behalten und faszinieren Künstler und Kunstliebhaber gleichermaßen. Sie sind ein Zeugnis für
die Kreativität und den Humor der japanischen Künstler des 13. Jahrhunderts.
Besonderheiten der “Chōjū-jinbutsu-giga” |
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• Dynamische Bildkomposition |
• Detaillierte Tuschezeichnungen |
• Humorvolle Darstellung von Tieren |
• Satireshrift auf menschliche Gesellschaft |
Die “Chōjū-jinbutsu-giga” sind nicht nur
eine Sammlung von lustigen Tierbildern, sondern auch ein tiefgründiges Werk, das uns zum Nachdenken anregt. Sie erinnern uns daran, dass wir
Teil einer größeren Gemeinschaft sind, in der Mensch und Tier zusammenleben.